Am 03.09. 1913, also genau vor einem Jahrhundert, geschah in Deutschland eine furchtbare Gewalttat, die als erster "moderner" Amoklauf in der westlichen Welt gelten kann.
Der 38 Jahre alte Hauptschullehrer Ernst W. ermordet zunächst in der Nacht seine vier Kinder und seine Frau. Er hatte bereits Schusswaffen und dunkle Kleidung vorbereitet, um anschließend zu seiner Haupttat zu schreiten. Mit einem Fahrrad im Gepäck bestieg er den Zug, um seinen finalen Tatort zu erreichen, Mühlhausen an der Enz, wo er über ein Jahrzehnt zuvor als Unterlehrer tätig gewesen war. Zwischendurch macht er einen Halt, um Verwandte ein letztes Mal zu besuchen und um Abschiedsschreiben zu versenden.
In Mühlhausen kommt Ernst W. am späten Abend an, legt in dem kleinen Ort mehrere Brände und schießt auf jeden, den er sieht, bevor er von den Bewohnern schließlich gewaltsam überwältigt wird. Neun weitere Menschen sterben dort, darunter ein Kind, elf weitere sind zum Teil schwer verletzt.
Ernst W. wird in dem anschließenden Prozess wegen Paranoia als unzurechnungsfähig erklärt und für den Rest seines noch längeren Lebens in einer Nervenheilanstalt bei Winnenden untergebracht, dem Ort in dem 96 Jahre später ein schwerer Schulamoklauf geschieht.
Wie seine Tagbücher zeigten, hatte Ernst. W. seinen Amoklauf schon lange geplant. Offenbar genoss er nach der Tat seinen Ruhm als notorischer Gewalttäter. Er verfasste in der Anstalt literarisch intendierte Werke und korrespondierte mit bekannten Zeitgenossen.
Der Fall Ernst W. zeigt mehrere Charakteristika auf, die als typisch für sogenannte schwere zielgerichtete Gewalttaten gelten, die immer eine Vorgeschichte besitzen und in der Mehrzahl potenziell erkennbare Warnsignale aufweisen:
1. Die Tat war über einen längeren Zeitraum hinweg geplant und vorbereitet worden. Im Unterschied zu vielen historischen Amokläufen in nicht-westlichen Gesellschaften, sind "moderne" Amokläufe in der Mehrzahl der Fälle kalkuliert und vorbereitet.
2. Es gibt eine hohe Überschneidung mit suizidalen Entwicklungsdynamiken, wobei im Gegensatz zu einer verbreiteten Fehlannahme nicht alle Amokläufer planen bei oder nach ihrer Tat zu sterben. Ernst. W. zeigte sogenannte Abschiedshandlungen, wie das Versenden der Postkarten und das Aufsuchen von Verwandten.
3. Das Ziel des Angriffs hat meist eine persönliche oder symbolische Signifikanz für den Täter. Hier war es ein früherer Arbeitsort von Ernst W., an dem er möglicherweise Kränkungserfahrungen gemacht hatte.
4. Amoktäter zeigen regelmäßig eine narzisstische Dynamik, d.h. sie versuchen Selbstwertproblematiken mit Größenfantasien zu kompensieren. Mit ihrer Tat möchten sie deshalb oft ein Fanal setzen, um es ihrem Umfeld oder gar der ganzen Welt zu zeigen. Die narzisstische Grandiosität war bei Ernst W. in zahlreichen Größenfantasien ausgesprochen präsent.
5. Viele erwachsene Amokläufer haben einen ausgeprägten misstrauischen oder gar paranoiden Persönlichkeitszug, wobei nur eine signifikante Minderheit der älteren Amoktäter eine paranoide Wahnstörung aufweist. Bei Ernst. W. diagnostizierte der bekannte Psychiater Robert Gaupp eine Paranoia.
Ein detaillierter und aufschlussreicher Pressebericht zu dem Amoklauf von Ernst W. findet sich unter folgendem Link: