von Dr. Jens Hoffmann, I:P:Bm
Wer will, konnte von dem Anschlag in Christchurch lernen: Ein Attentat kann dich berühmt machen – sogar weltweit. Es gibt dir Identität und Bedeutsamkeit.
Zwar gibt es hierzu bislang keine systematische Studie, doch zeigen Fallbeispiele immer wieder, dass radikalisierte Kleingruppen oder Einzelakteure sich von anderen Tätern vor ihnen haben inspirieren lassen. So hatte beispielsweise im April 1999 in London der rechtsradikale Einzeltäter David C. an drei aufeinanderfolgenden Wochenenden Nagelbomben gezündet in Vierteln von Minderheiten. Dabei starben drei Menschen, darunter eine schwangere Frau. Außerdem wurden 129 weitere Personen verletzt. Nach seiner Verhaftung sagte David C. der Polizei, dass er durch den Bombenanschlag bei den Olympischen Spielen in Atlanta drei Jahre zuvor das erste Mal auf die Idee gekommen sei, eine solche Tat zu verüben. Zudem gab er an, dass er durch seine Taten "... irgendwie berühmt werden wollte. Wenn sich niemand an dich erinnert, ist es als hättest Du nie existiert." Er hatte auch Zeitungsausschnitte seiner ersten Anschläge an die Wand gepinnt. Dadurch wird offenkundig, dass es für David C. bei seinen Gewalttaten nicht alleine um politische Ziele ging.
Aus psychologischer Sicht lässt sich vermuten, dass bei der rechtsradikalen Anschlagsserie auch eine narzisstische Motivation eine zentrale Rolle spielte. Im Grundsatz handelt es sich bei Narzissmus um eine Form der Selbstwertregulation, bei der in einem gesunden Ausmaß eine Person stolz auf eigene Leistungen sein kann, zugleich aber auch in der Lage ist Kritik auszuhalten, ohne in existenzielle Selbstzweifel und selbstschädigende Wutgefühle zu verfallen. In der problematischen Variante des Narzissmus benötigt eine Person Grandiositätsfantasien, also die Wahrnehmung eine besondere Bedeutung zu besitzen, um Gefühle von Ungenügen, Leere und Wertlosigkeit abwehren zu können. Die grandiose Fantasie ein gefährlicher Täter zu sein oder die Welt mit Gewalt zu verändern, kann hier eine Anziehungskraft bieten, um sich selbst wieder zu stabilisieren.
Eine solche Dynamik war in dem Fall von Josef B. deutlich zu erkennen, der in den 60er Jahren ein Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke verübte, welcher einige Jahre später an den Spätfolgen seiner schweren Verletzungen starb. Am 10. April 1968 verabschiedete sich der 23 jährige Josef B., der mehrfach vorbestraft war, von seiner Arbeitsstelle in München mit den Worten: „Ihr werdet noch von mir hören – im Fernsehen, im Rundfunk, in der Presse.“ Er hatte zwei Pistolen und ein Päckchen Schlaftabletten bei sich. Danach fuhr er mit dem Nachtzug nach Berlin. Am Bahnhof angekommen erkundigte er sich bei Taxifahrern, wo er den Studentenführer Rudi Dutschke finden könne. Er ging schließlich zu dem Zentrum der Studentenbewegung und fragte direkt nach Dutschke. Dort wartete er vor dem Eingang und als der Studentenführer kam, schoss er drei Kugeln auf ihn und traf ihn in den Kopf und in die Schulter. Josef B. floh nach seinem Attentat in den Keller eines Rohbaus. Er nahm eine Überdosis Schlaftabletten und verschanzte sich dort. Bei dem Feuergefecht mit der bald eintreffenden Polizei fiel den Beamten auf, dass Josef B. immer wieder aus der Deckung ging, als wolle er getroffen werden. Nach einem ersten Suizidversuch im Gefängnis, gelang es ihm schließlich, sich in seiner Zelle selbst zu töten.
Auch Josef B. war durch einen anderen radikalen Anschlag für seine Tat inspiriert worden. Bei der Vernehmung durch die Polizei gab er an, das Attentat auf den schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King hätte ihn auf den Gedanken für seine Tat gebracht: „Da dachte ich, dass muss ich auch machen.“ Er wollte der Öffentlichkeit zeigen, dass ein ähnlicher Anschlag auch in Deutschland möglich sei. Sein Motiv sei politischer Natur, da er sich auch sehr für Politik interessiere, jedoch keiner Partei angehöre. Er äußerte zudem Adolf Hitler zu verehren. Unter dessen Führung seien die Deutschen noch nationalbewusst gewesen. Was sich die Studenten in den 60er Jahren erlauben würden, hätte es zur Zeit des Dritten Reiches nicht gegeben. Sein Attentat auf Dutschke sei deshalb ein Warnsignal. In dem während des Prozesses erstellten psychiatrischen Gutachten wurde noch einmal eine narzisstische Motivation für den Anschlag hervorgehoben: Josef B. „… träumte davon, ein großer Mann zu sein. Er träumte davon, schöne Frauen zu haben, Geld zu haben. Er träumte davon, ein schönes Leben zu führen.“ Heute würden wir bei Josef B. von einem politisch radikalisierten Einzeltäter sprechen. Aus kriminalpsychologischer Sicht betrachtet gibt es jedoch deutliche Belege, dass Josef B. den Anschlag nutzte, um sich selbst Bedeutung und eine Identität zu verschaffen und auch durch eine solche Tat grandios unterzugehen – hier im Kugelhagel der Polizei. Es war also ein Versuch berühmt zu werden und gleichzeitig zu sterben.
Bei Erwachsenenamokfällen widmete sich erstmals eine systematische Studie im Jahr 1999 der Frage, inwiefern eine Medienberichterstattung über spektakuläre Gewaltakte weitere Taten stimuliert haben könnte. Hierzu wurden im Detail sieben Fälle aus Australien, Großbritannien und Neuseeland analysiert, die zwischen den Jahren 1987 und 1996 geschahen. Hierbei gab es 101 Todesopfer und zudem starben fünf der Täter. Drei der Taten zeigten einen engen zeitlichen Zusammenhang mit vorhergehenden Amokläufen und zwei der Täter nahmen Bezug auf andere Amoktäter vor ihnen. Insgesamt konnte in der Untersuchung bei vier der sieben Taten ein Nachahmungseffekt festgestellt werden.
Aber auch das Motiv kann nachgeahmt werden, das scheinbare "Warum". Der individuelle psychologische Mechanismus ist hierbei häufig der der "Identifikation". Hierbei spielt oftmals das sogenannte Identifizierungswarnverhalten eine Rolle. Dieses Warnverhalten wird durch folgende Merkmale sichtbar, wobei nicht selten mehrere Faktoren gleichzeitig präsent sind wie auch bei dem Täter von Christchurch:
1) Selbstinszenierung und Selbstwahrnehmung als ein militärisches "Pseudokommando"
2) Kriegermentalität
3) Eine sehr enge innere Verbindung zu Waffen oder militärischen bzw. polizeilichen Utensilien
4) Identifizierung mit anderen Attentätern oder Gewalttätern
5) Selbstwahrnehmung, die Mission zu haben ein bestimmtes Thema oder Glaubens- bzw. ideologisches System voranzubringen
Der psychologische Gewinn bei der Identifizierung ist häufig Selbstwerterhöhung und ein Effektanzerleben im Sinne eines Rachefeldzugs. Dadurch werden Gefühle von Allmacht und omnipotenter Kontrolle stimuliert, welche das labile Selbstwertgefühl stabilisieren sollen. Hierzu ein weiteres Beispiel: Ein 45 Jahre alter Mann war an der Universität in Krakau als Chemiker tätig. Er war fasziniert von dem norwegischen Attentäter und Amokläufer Anders B., den er auch im Internet offen verehrte, und wollte dessen Tat nachahmen. Er äußerte die Ansicht, dass Ausländer die polnische Regierung übernehmen würden und suchte Mittäter für einen Anschlag auf das polnische Parlament in Warschau. Zudem kaufte er sich Pistolen und Munition in Belgien und in Polen sowie Substanzen, um Sprengstoff herzustellen. Der Plan war es eine Autobombe vor dem Parlament explodieren zu lassen. Er sagte, sein Vorbild Anders B. habe Fehler gemacht, die er selbst nicht machen würde. Sein Anschlag würde besser sein. Laut Aussagen von Nachbarn, hatte er schon immer gerne mit Sprengsätzen hantiert und diese explodieren lassen. Glücklicherweise gelang es der polnischen Polizei den Mann vor der Ausübung seiner Tat festzunehmen. Psychologisch interessant ist an diesem Fall, dass er sich zum einen mit Anders. B. identifizierte, ihn zum anderen aber auch gerne überflügeln würde.
Schon lange vor der Zeit von Social Media, Internet und Fernsehen, haben die Sozial- und Kriminalwissenschaften eine Antwort darauf gegeben, wie sich der Nachahmungseffekt bei schweren zielgerichteten Gewalttaten eindämmen lässt. So warnte in einer Untersuchung von Attentaten auf US-amerikanische Politiker bereits im Jahr 1911 der Kriminologe McDonald vor einer zu ausufernden Berichterstattung über solche Aufsehen erregenden Anschläge, denn die mediale Aufmerksamkeit würde die Ruhmsucht potenzieller Attentäter animieren und eine Gewalttat begünstigen. So gab er folgenden Rat: „Zeitungen, Zeitschriften und Autoren von Büchern sollten aufhören, die Namen dieser Kriminellen zu veröffentlichen. Sollte dies nicht freiwillig geschehen, so sollte man es zum Vergehen machen, es zu tun. Dies würde die Hoffnung auf Ruhm, Bekanntheit und das Berüchtigtsein stark reduzieren, welche ein großer Ansporn für solche Verbrechen ist.“ Auch aus heutiger Sicht ist diese Empfehlung hochaktuell.
Sicherlich müssen Medien über schwere Gewalttaten detailliert berichten, auch verbreiten sich sicherlich problematische Informationen schneller und unkontrollierter über das Internet. Dennoch haben Massenmedien noch immer einen großen Einfluss auf die Rezeption solcher Taten auch dahingehend, wie "attraktiv" sie einen Gewaltakt für potentielle Nachahmer haben.
Folgende Empfehlungen können den Nachahmungseffekt mindern:
Nennen Sie keine Namen
Nicht wenige radikalisierte Einzeltäter oder Kleingruppen erhoffen sich durch ihre Tat bekannt zu werden und ihren Namen unsterblich zu machen. So genoss der norwegische Attentäter Anders B., der im Juli 2011 zunächst in Oslo und anschließend auf einer Insel 77 Menschen getötet hatte, vor Gericht sichtbar die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Zudem sprach er davon, dass er durch seine islamfeindliche Gewalttat in die Geschichte eingehen werde.
Zeigen Sie keine Gesichter
Auch Gesichter markieren die Individualität der Gewalttäter. Leicht lässt sich digital ein Gesicht verpixeln und somit entindividualisieren. Seien es beispielsweise die drei Mitglieder der rechtsradikalen Serienmörder Gruppe NSU oder aktuell der rechtsradikale Täter von Christchurch. Ein Gegenmittel ist die mediale Entindividualisierung. Dies hat zudem den weiteren positiven Effekt, dass überlebende Opfer und Angehörige nicht andauernd immer wieder potenziell traumatisiert werden, wenn sie bei der Nutzung von Medien in die Gesichter der Menschen blicken müssen, die ihnen selbst oder nahestehenden Personen schwere Gewalt angetan haben.
Dämonisieren Sie die Täter nicht
Wenn radikale Einzeltäter als gewalttätige Monster, eiskalte Killer oder ähnliches bezeichnet werden, wertet es sie auf. Es macht sie größer als sie sind. Dies schafft eine negative Identität, die mit zunehmender Dämonisierung auch ihre Bedeutsamkeit steigert. Eine solch mächtige negative Identität kann eine hohe Anziehungskraft besitzen für Menschen mit Selbstwertzweifeln und einem labilen Selbstwert.
Nennen Sie keine Schwachstellen
Schwachstellen können zu einem Angriff animieren bei Menschen, die über eine Gewalttat nachdenken, aber noch keinen finalen Entschluss getroffen haben. Die implizite Nachricht lautet: An dieser Stelle ist ein terroristisches Attentat möglich. So wurde im Mai 2015 berichtet, dass ein Ehepaar einen islamistisch motivierten Anschlag auf ein Radrennen geplant habe und dadurch aufgefallen sei, dass es im Baumarkt eine bestimmte Substanz gekauft habe mit der sich Bomben bauen ließen. Zudem wurde erwähnt, dass auch der Kauf kleinerer Mengen der Substanz an die Behörden gemeldet werden würden. Solche Informationen sind natürlich für potenzielle zukünftige Täter hilfreich, die damit ihr Vorgehen im Vorfeld optimieren können.
Fordern Sie niemanden ohne Not heraus
Selbstverständlich ist eine kritische und manchmal konfrontative Berichterstattung wichtig in einer Demokratie und es darf keine auch nur informelle Selbstzensur geben. Dennoch sollte man sich im Klaren sein, dass unnötige Herabsetzungen und Beleidigungen Gewalt auslösen können. So war beispielsweise 2015 in den USA eine rechtspopulistische und islamfeindliche Ausstellung von Mohamed Karikaturen von den Veranstaltern groß medial inszeniert worden. Zwei radikalisierte Täter griffen dann den Veranstaltungsort mit Gewehren an.
Weiterführende Literatur
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