von Katrin Streich, Dr. Jens Hoffmann & Mirko Allwinn, I:P:Bm
Lange dachte man, dass Amokläufe quasi wie aus heiterem Himmel über die unglücklichen Betroffen und deren Angehörigen hereinbrechen. Eine Verhinderung dieser Form von Gewalt erschien kaum möglich. Doch gibt es in jüngster Zeit große Fortschritte: Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse sowie die Fachdisziplin des Bedrohungsmanagements ermöglichen neue Präventionsansätze.
So zeigt eine noch nicht veröffentlichte Studie der I:P:Bm Kriminalpsychologen Mirko Allwinn und Jens Hoffmann in Kooperation mit dem US-Experten Reid Meloy, dass Amoktäter in der Regel vielfache Warnsignale im Vorfeld zeigen. So gab es in 77% aller Fälle Planungs- und Vorbereitungshandlungen, bei 90% waren Fixierungen auf Ungerechtigkeiten oder ähnliches festzustellen und in über 90% der Fälle hatten die späteren Täter ab einem bestimmten Zeitpunkt das Gefühl, dass eine Gewalttat aus ihrer Sicht die letzte Handlungsoption darstellt. Über die Hälfte drohten vor der Tat direkt oder machten Andeutungen gegenüber anderen eine Gewalttat zu begehen.
Die grundlegende Schwierigkeit besteht also nicht primär im Erkennen einschlägiger Warnsignale. Vielmehr gilt es bedrohliches Verhalten mit professionellen und wissenschaftlich fundierten Risikoeinschätzungsinstrumenten zu bewerten und zugleich ein begleitendes Fallmanagement zu installieren.
Eine Herausforderung liegt zum einen darin, dass manche Fälle sich über Jahre hinziehen. Hier gilt es im Fallmanagement immer wieder hinzusehen und gegebenenfalls aktuelle Entwicklungen in den Re-Bewertungsprozess mit einfließen zu lassen. So kann es für die Risikoeinschätzung von erheblicher Bedeutung sein, wenn ein ohnehin schon labiler Mensch seine engste Bezugsperson durch Tod verliert oder ein anderer einen für ihn wichtigen und alles entscheidenden Gerichtsprozess verliert. Die Risikobewertung fokussiert immer auf die aktuelle Situation. So kann also etwa ein Mensch eine lange Zeit zwar bedrohlich auftreten, aber es findet sich kein erhöhtes Risiko für die Durchführung einer schweren zielgerichteten Gewalttat. Durch eine gravierende Veränderung im Lebensumfeld aber kann dieses Risiko rasant ansteigen.
Die andere Herausforderung liegt im holistischen Ansatz des Bedrohungsmanagements. Also die Annahme, dass ein System optimal nur ganzheitlich funktioniert und mehr ist als die Aufsummierung der Einzelteile. Die Identifizierung von Warnverhaltensweisen im Sinne der oben aufgezeigten Warnsignale, kann nur erfolgen wenn an geeigneter Stelle innerhalb einer Struktur eine Informationsbündelung und eine systematische Kommunikation in alle Richtungen statt findet. Wir brauchen einen Gesamtblick auf das Verhalten eines Menschen um ihn verstehen und einschätzen zu können, und der ist sehr komplex.
Wie der aktuelle Fall in Münster zeigt, haben Menschen im Umfeld des Täters jeweils spezifisches Wissen über den Täter gehabt. Die Nachbarn kannten ihn und haben problematische Veränderungen festgestellt. An anderer Stelle wird über Veränderungen von R. nach einem Unfall berichtet. Ende März soll R. in einer E-Mail angedroht haben Suizid zu begehen. Auch die Polizei habe mehrfach versucht ihn diesbezüglich zu kontaktieren. Wie R. in einem langen Schreiben zum Ausdruck brachte, hat er sich offenbar massiv ungerecht behandelt und unverstanden gefühlt. In der Vergangenheit soll es mehrere Verfahren gegen R. wegen Auseinandersetzungen im familiären Bereich gegeben haben. Diese Verfahren wurden allerdings alle eingestellt. Und auch für die Polizei und den sozialpsychiatrischen Dienst war R. wohl kein Unbekannter.
Die weiter oben dargestellten Herausforderungen werden in diesem Fall von Münster allzu deutlich. Es gilt viele verschiedene Informationen an der richtigen Stelle zusammen zu bringen, um eine adäquate Einschätzung vornehmen zu können. Die Implementierung von regionalen Bedrohungsmanagement-Strukturen scheint hier der richtige Weg zu sein. Städte wie Nürnberg oder Kantone in unserem Nachbarland Schweiz, wie z.B. im Kanton Solothurn, sind hier Vorreiter. Wir von I:P:Bm haben dort gemeinsam mit den Partnern vor Ort solche regionalen Bedrohungsmanagement-Strukturen aufgebaut. Alle lokalen Stakeholder kommen hier strukturell zusammen, also zum Beispiel Vertreter der Stadtverwaltung, der Polizei, der Justiz, der lokalen Beratungsvereine im Bereich Opfer-, Täter- und Krisenhilfe u.a.. Kommunikationswege sind definiert, Fallbewertungen fußen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden und das Bedrohungsmanagement ist prozesshaft beschrieben und transparent.
Diese BM-Netzwerke arbeiten sowohl proaktiv als auch reaktiv. Mit ihnen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass gefährliche Personen vor einer potentiellen Tat erkannt werden können und dann das geeignete Fallmanagement ausgewählt und umgesetzt werden kann.