von Nils Böckler und Dr. Jens Hoffmann
Mit dem Ausruf des sogenannten Islamischen Staates, vermehrten Reisebewegungen in Richtung Syrien und den Irak sowie den jüngst zu verzeichnenden Anschlägen durch Einzeltäter und Kleingruppen in westlichen Ländern hat das Thema „Früherkennung von Radikalisierungsprozessen“ nicht nur bei Sicherheitsbehörden an Priorität gewonnen.
Auch in anderen Organisationsformen, in denen Menschen mit den verschiedensten Erfahrungen, Biografien und kulturellen Hintergründen zusammenkommen, gilt es ein Klima der Achtsamkeit für mögliche Krisenverläufe zu schaffen und Prävention sowie Handlungssicherheit zu stärken und voranzutreiben.
Um Radikalisierungsprozesse zu erkennen, einzuschätzen und den Umgang mit Personen zu gestalten, die problematisches Verhalten zeigen, ist ein strukturiertes Vorgehen notwendig, das auf fundiertem wissenschaftlichen Erkenntnissen fußt. Zu groß ist sonst die Gefahr durch Halbwissen Mitmenschen zu stigmatisieren, komplexe Informationen falsch zu bewerten und Radikalisierungstendenzen zu verschärfen. Aus diesem Grunde begrüßen wir sowohl die Entwicklung und Einführung von wissensbasierten Risikoanalyseinstrumenten als auch die Diskussion über selbige. Ein Beispiel hierfür ist das in der letzten Woche öffentlich bekanntgewordene RADAR, welches durch die Universität Zürich zusammen mit dem BKA entworfen wurde, um Sicherheitsbehörden ein strukturiertes Einschätzungsverfahren an die Hand zu geben. Ähnliche Instrumente sind bereits mit VERA 2 (Violent Extremism Risk Assessment), ERG-22 (Extremism Risk Guidance) und TRAP-18 (Terrorist Radicalization Assessment Protocol) auf den Weg gebracht worden.
Risk-Assessment nicht nur durch Sicherheitsbehörden
Um das Restrisiko für Eskalationsverläufe zu mindern, muss es auch in Schulen, Universitäten, Behörden, Unternehmen, Gefängnissen und regionalen Strukturen Ziel sein, jenen Menschen, die bedrohlichem Verhalten ausgesetzt sind oder dieses beobachten, zur Handlungssicherheit zu verhelfen, sie in ihrer psychischen und physischen Integrität zu schützen und Überreaktionen zu vermeiden. Unsicherheit ergibt sich oftmals auch durch das Bedürfnis im Umgang mit anderen Personen Toleranz zu zeigen, verbunden mit der Sorge darüber, Indikatoren, die möglicherweise auf eine Radikalisierung im sozialen und beruflichen Umfeld hindeuten, zu übersehen oder falsch einzuschätzen. Doch was sind überhaupt verlässliche Indikatoren für islamistische Radikalisierung und wie lassen sich diese frühzeitig erkennen?
Identifikation von Handlungsmustern, die auf Radikalisierungsprozesse hindeuten (Rote Flaggen)
Allein in Deutschland lässt sich ein facettenreicher Personenkreis identifizieren, der sich vor dem Hintergrund islamistischer Ideologie radikalisiert hat. Dieser reicht von Kindern, wie im Fall des 12-jährigen Jungen, der ein Nagelbombenattentat in Ludwigshafen plante oder der 15-jährigen Safia S., die in Hannover einem Bundesbeamten in den Hals stach. Ebenso haben wir es im Bereich islamistischer Radikalisierung mit Schulabbrechern samt broken home Hintergrund, Menschen mit krimineller Vergangenheit, aber auch Gymnasiasten sowie Studenten zu tun, deren Eltern Ärzte oder Unternehmer waren. Ein verlässliches Persönlichkeits- oder Sozialprofil lässt sich nicht erkennen. Das verbindende Element der Täter ist vielmehr ein diffuses und höchst subjektiv gefärbtes Erleben eines persönlichen Missstandes, in dem extremistische Botschaften und Radikalisierungsprozesse einen Anknüpfungspunkt fanden. Bei aller Divergenz fällt jedoch auf, dass terroristische Gewalt immer den Endpunkt eines Entwicklungsweges darstellt, der durch charakteristische Merkmale im Verhalten und in der Kommunikation der späteren Täter begleitet wird. Dies konnte in vielfältigen internationalen bedrohungsanalytisch ausgerichteten Studien nachgewiesen werden. Wir bündeln diese Erkenntnisse derzeit im Rahmen der Entwicklung zweier Instrumente, die Anwender bei dem Erkennen, Einschätzen und Entschärfen von islamistischer Radikalisierung aus bedrohungsanalytischer Perspektive unterstützen.
Der Radikalisierungsscreener
Ab dem 1. Februar schulen wir Fachpersonen aus Bildungseinrichtungen, Behörden, Gefängnissen und Unternehmen in der Anwendung eines Instrumentes zur Ersteinschätzung möglicher Radikalisierungsprozesse. Dieser Radikalisierungsscreener findet ausschließlich dann Anwendung, wenn eine Person durch besorgniserregendes Verhalten, das eine Hinwendung zu einer radikal islamistischen Ideologie vermuten lässt, aufgefallen ist. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse unterstützt der Screener den Anwender bei der Identifizierung und Einschätzung beobachtbarer Verhaltensmuster, die sich im Zuge von Radikalisierungsprozessen und damit einhergehenden Gewalttaten als relevant erwiesen haben (sogenannte Rote Flaggen). Der Screener ist sensibel für Verhaltenstendenzen, die eine weitere Beobachtung bzw. eine sofortige Intervention notwendig machen. Er ersetzt keine ausführlicheren Verfahren zur Abschätzung von Gewaltrisiken, kann aber Hinweise darauf geben, ob eine weiterführende, vertiefende Risikoanalyse sinnvoll ist.
DyRiAS-Radikalisierung
Für eine komplexe Risikobewertung entwickeln wir derzeit, auf der Grundlage detaillierter Fallanalysen und Forschungsergebnisse zum Phänomenbereich, DyRiAS-Radikalisierung. Wie bereits die anderen etablierten Instrumente der DyRiAS-Familie, erfasst das onlinegestützte Tool verhaltensorientierte Warnsignale und bewertet auf dieser Basis, wie hoch das Ausführungsrisiko einer terroristischen Gewalttat ist. Die Anwender werden anhand von Fragen durch die Programme geleitet und erhalten weiteres Hintergrundwissen in Form von Experteninterviews, realen Fallbeispielen und wissenschaftlichen Befunden. Die Entwicklung von DyRiAS-Radikalisierung wird im Spätsommer abgeschlossen sein.
Im Rahmen der DyRiAS-Analysen wird Gewalttätigkeit nicht als Persönlichkeitseigenschaft verstanden, sondern als Resultat eines ständigen Wechselspiels zwischen dem Täter, potentiellen Opfern und situativen Einflüssen. Die DyRiAS-Instrumente arbeiten deshalb nicht mit typisierten Täterprofilen, sondern verstehen Risikoeinschätzung als einen dynamischen Prozess, der fallbegleitend ist und gegebenenfalls immer wieder aktualisiert werden muss. Da DyRiAS auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu spezifischen Handlungsmustern im Vorfeld terroristischer Gewalttaten zurückgreift, laufen Anwender nicht in Gefahr einen Menschen aufgrund kultureller, religiöser oder unspezifischer Verhaltensweisen, die in keinem Verhältnis zu bedrohlichem Verhalten stehen, zu stigmatisieren. Darüber hinaus können auch unproblematische Entwicklungsverläufe frühzeitig erkannt werden, was eine Entlastung schafft und unnötige Eskalationen verhindert.